Seoul - Stadt der zersprungenen Zeit
Glitzerstadt, Boomtown, Trendsetter Ostasiens: Zwei Tage in Seoul, wo Liebesbatterien und Garküchendampf Erinnerungen an die Zukunft wecken
Von ALARD VON KITTLITZ
An der Station „Dongdaemun History and Culture Park“ auf der U-Bahn-Linie 2 in Seoul gibt es weder History noch Culture noch Park. Die U-Bahn spuckt mich auf einer riesigen Kreuzung aus, kein Grün, nirgends, gesichtslose Hochhäuser, eine dicke Baustelle. Hinter den Holzzäunen entsteht, begreife ich schließlich, ein Bau von Zaha Hadid, das wird irgendwann der „History and Culture Park“.
Erster Tag, gerade angekommen. Müde, verloren in Seoul. Dongdaemun klang wie ein guter Einstieg in diese riesige Stadt. Es ist sehr kalt, obwohl die Frühlingssonne an diesem Nachmittag scheint. Wenn man nicht weiß, wo man ist, kann man sich immerhin nicht verlaufen. Ich gehe in ein Gassengewirr hinein, das hinter den Hochhäusern an der Kreuzung beginnt. Grober, staubiger Beton auf dem Boden, die Geschäfte rechts und links eher Verschläge als Verkaufsräume. Wellblech und Plastik überdachen die Passagen, es ist düster. In einigen Gassen haben Händler ihre Waren vor sich auf dem Boden ausgebreitet, Schuhe für acht Euro, Gemüse, Aquarien, Hühner, ein merkwürdiger Mix. Die Verkäufer hocken so rum und rauchen, ein alter Mann schiebt bucklig einen mit Paletten vollbeladenen Karren vor sich her.
Das ist also Seoul, die vielgerühmte Glitzerstadt, Boomtown, Trendsetter Ostasiens.
Das Werbe-SeoulMein Bild der Stadt ändert sich schon in den nächsten Stunden, und natürlich ist der erste Eindruck schwachsinnig. So, wie als Berlin-Tourist als Erstes planlos in einen tristen Neuköllner Kiez zu fahren und danach wie ein Bürgermeister zu denken: Neukölln ist überall. Zugleich ist Dongdaemun die beste erste Station, die ich hätte erwischen können. Denn ja, auf der Kreuzung entsteht ein Bau von Zaha Hadid, ultraschick, durchdesignt. Das ist das Werbe-Seoul. Aber die Wahrheit ist auch, dass die Amerikaner, als sie am Ende des Koreakriegs 1953 die nicht zuletzt durch die eigenen Bomber verursachten Schäden überblickten, zu dem Schluss kamen, Südkorea sei ein Fass ohne Boden. Egal, wie viel Geld man hineinkippe, kurz- und mittelfristig ohne Hoffnung auf Erholung. Absolute Dritte Welt. Dann setzte in den späten sechziger Jahren das rasende koreanische Wirtschaftswunder ein, das diese Einschätzung heute so falsch erscheinen lässt. Es verwandelte Samsung von einem Fischkonserven-Business zum globalen Mega-Touchscreen-Konzern. Die bescheideneren Gegenden, die ärmeren Einwohner von Seoul hat der Boom noch nicht sichtbar erreicht. Und so ist die Gegenwart in dieser Stadt nicht jene haarfeine Linie, die der Sekundenzeiger zwischen Vergangenheit und Zukunft zieht, sie ist in dieser Stadt eher eine Überlagerung all dessen, was war und noch kommen wird. Je länger man in Seoul bleibt, desto intensiver wird dieser Eindruck vermischter Zeiten, desto mehr entwickelt die Stadt dadurch eine rauschhafte Qualität. Alles fliegt durcheinander.
Da ist zum Beispiel dieser Mann, der sein uraltes Motorrad auf dem Trottoir parkt, eine winzige Maschine, auf der er kaum Platz findet, weil sie begraben wird unter einem Berg aus kunstvoll geschichteten und festgebundenen Pappkartons. Aus Pappe sind auch die Manschetten, die er mit Isolierband um die Griffe des Motorrads geklebt hat, so dass seine nackten Hände nicht im Fahrtwind frieren. Die Haare des Mannes sind ergraut, sein Gesicht braungebrannt und wettergegerbt, er trägt Gummistiefel, eine löcherige Hose und eine zugestaubte Jacke aus grobem Stoff. An den Lenker des Motorrads hat er mit Draht ein kleines Küchenradio gebunden, aus dem ein altmodischer koreanischer Schlager scheppert, ein Song noch aus der Zeit der Diktatur, mit einem Text, der damals Eindeutigkeiten an der Zensur vorbeischmuggelte: „Meine Liebesbatterie wird leer“, singt die Frau, „sie ist zu lange nicht geladen worden, lad sie wieder auf.“ Der Mann pfeift durch die Löcher zwischen den Zähnen, steigt ab und trägt seine Ladung in ein Geschäft.
Gegenwart: geschenktDas Geschäft liegt auf der Garosu-gil, einer Shopping-Straße im Herzen von Gangnam, dem teuersten Viertel von Seoul. Während der Alte ablädt, laufen junge Menschen mit riesigen Einkaufstüten vorbei, beladen mit Chanel und Louis Vuitton, Smartphones und Starbucks-Bechern. Die Jeunesse läuft vorbei an glänzenden Schaufenstern, auf niedlich gebürsteten Fassaden, die Europa, Fachwerkhäuser, Landschlösschen simulieren, an Werbeschildern der zahllosen Schönheitskliniken, in denen sich Koreanerinnen westlichere Augen, Nasen, neue Brüste verpassen lassen, sie beäugt die jungen Pärchen, die in Porsches und Ferraris langsam die Straße hinuntergleiten.
Und der Bruch dieser Szene besteht weniger zwischen dem Armen und den Reichen als zwischen den Generationen, zwischen den alten und den jungen Koreanern. In Seoul ist die Zeit wie an jedem anderen Ort auch vorangegangen, nur waren die Umbrüche in diesem Land besonders hart, und irgendwie hat man auch das Gefühl, dass die Alten mit der neuen Zeit nicht mitmachen wollen, als sei sie ihnen zu frivol, als wollten sie sich deren Leichtsinnigkeit und Konsumlust nicht leisten, als wäre sie ihr Geschenk an die mode- und technologievernarrten Kinder.
Es gibt ein paar Gegenden in der Stadt, die den Krieg überlebt haben, Bukchon zum Beispiel, in dessen hübschen Häuschen aus dem 15. Jahrhundert vor ein paar Jahren noch alte Akademiker hausten, bevor die neuen Reichen aus dem Süden der Stadt beschlossen, die Gebäude zu persönlichen Schmuckstücken hochzurenovieren. Die Preise für die teilweise winzigen Häuser stiegen schnell ins Unermessliche, und die koreanischen Touristen, die täglich durch Bukchons Gassen schlendern, können die Gebäude oft nur über stacheldrahtbewehrte Mauern betrachten. Das historische Seoul ist eine Art Installation, ein penibel gepflegtes Museum geworden. Das alte Seoul dagegen, das Seoul der Nachkriegszeit, die Stadt, aus der der pfeifende Motorradfahrer stammt, ist in anderen Gegenden noch sehr lebendig.
Die ZeitschichttorteGwangjang Market ist ein immenses Netzwerk aus wellblechüberdachten Einkaufsstraßen, dessen Herz die Lebensmittelhändler und Garküchenbetreiber besetzen. Der Markt liegt verkehrsumtost und wie eine Insel zwischen breiten, seoultypischen Verkehrsachsen, die Gebäude in dieser Gegend sind einstöckig und grob, fünfziger Jahre, mehrstöckig und praktisch, sechziger, keramikverkleidet und hoch, siebziger; alles wild durcheinander. Zeitschichttorte Seoul, nur die Spiegel- und Glitzerfassaden, die Computerformen der letzten zwanzig Jahre sucht man um Gwangjang vergeblich. Tagsüber ist Seoul keine hübsche Stadt, wenn es Abend wird aber und die Lichter überall angehen, alles in buntes Neon getaucht ist und die Menschen aus den Büros auf die Straßen kommen, wird die Stadt wundervoll und unglaublich lebendig, und Gwangjang entfaltet einen jahrmarktartigen Zauber.
Die Gasse, durch die ich mich zu den Küchen bewege, gehört den Elektrohändlern, jeder Laden hat seine eigenen Spezialitäten. Überall blinkt es, liegen meterlange Kabel umher, Steckdosen, Radios, Joysticks, Monitore, Funkgeräte, Fernseher, und all das ist gebraucht, mit Patina, aufgehoben, aufgemöbelt, repariert, zusammengeklebt. Die Besucher sind älteren Jahrgangs, fünfzig plus, in praktischen Arbeitswesten, Flanellhemden, Jogginghosen, sie sind auch nicht zimperlich, vor allem die alten Frauen in Korea schieben einen rücksichtslos zur Seite und schimpfen vor sich hin, wenn man ihnen zu langsam vor den Füßen schlendert. Durch die Elektrostraßen gelange ich in eine Stoff- und Kleidergegend, überall türmen sich Ballen in meist scheußlichen Pastell- und Knallfarben, die ausgestellten Anziehsachen sind aus Satin zusammengeschweißte „traditionelle“ koreanische Hanboks, kimonoähnliche Gewänder für festliche Anlässe, die mit den subtilen Schmuckstücken aus Seide, die sich die reichen Koreaner leisten, wenig gemein haben.
Es ist gegen acht Uhr abends, die vielen Menschen, die sich mit mir gemeinsam in eine Richtung bewegen, wollen nach getaner Arbeit essen, trinken, Gesellschaft. Der kulinarische Teil des Marktes ist überwältigend. Vieles von dem, was angeboten wird, kann ich nicht identifizieren, Gewürzberge, Getrocknetes, Gedörrtes, Gepökeltes, Eingelegtes, Geräuchertes in allen Farben und Formen, Fleischhändler (Schweinenasen), Fischhändler (riesige Tintenfische), Gemüsehändler (keine Ahnung), dazwischen ab und zu Drogerien und Importhandlungen.
Beim großen BruderDie Gerüche verändern sich mit jedem Schritt, über allem die Stimmen, die Musik, Geschäftigkeit, Lachen. Dann kommen die Garküchen, eine neben der anderen in der Mitte der Passagen, man sitzt mit dem Rücken zu den Geschäften, der Dunst des Bratfetts und der riesigen Suppentöpfe liegt wie Nebel über den Köpfen der Gäste, die zu ihren Würsten, Kutteln, Pfannkuchen, Sushirollen, Bibimbaps, Rippchen, Tempura, Hühnersuppen, Nudelpfannen alle immer Soju trinken, koreanischen Schnaps; sich mit Freunden, Nachbarn, Fremden unterhalten. Ich sitze an einem Pfannkuchenstand, als mein Nachbar sich nach langem, verwundertem Betrachten meiner Gestalt endlich traut zu fragen, woher ich komme. Ob ich Japaner sei. Ich bin blond und habe von einer alten Dame einmal das zweifelhafte Kompliment bekommen, dass ich bei meinem Aussehen damals sicher sofort in die Waffen-SS gedurft hätte.
Am nächsten Abend nimmt mich ein koreanischer Freund mit, um mir seinen „großen Bruder“, seinen „San Beh“ vorzustellen. Der große Bruder ist kein Verwandter, sondern einfach ein ein paar Jahre älterer Freund, dieser Umstand bestimmt aber die Art, in der die beiden miteinander umgehen (der Ältere bestimmt, muss sich um den Jüngeren aber auch kümmern). Der große Bruder hat mit Gummihandel ein Vermögen verdient und lässt uns per Luxus-Taxi in eine hollywoodartige Gegend Gangnams einschiffen. Er sitzt in einem Laden, den er als „Gentleman’s Drinking Club“ bezeichnet, in einem cremefarbenen Séparée, auf dem Tisch vor ihm sind Berge von Früchten, Crackern, Nüsschen, Whiskyflaschen, Eiskübeln und Gläsern aufgebaut.
Die Wände des Séparées sind lederverkleidet und weich, es läuft gemütlicher Jazz, der große Bruder hat den obersten Knopf seines Maßhemds gelockert und die schwere Panerai-Uhr auf den Tisch gelegt. Er ist 35 Jahre alt und betont, absoluter Selfmade-Man zu sein. Kaum sitzen wir, öffnet sich die Tür, und eine Matrone führt drei koreanische Mädchen in Cocktailkleidern in den Raum. Ich erschrecke, so hatte ich mir das nicht vorgestellt, aber ich verstehe natürlich auch alles wieder falsch: die Mädchen schnippeln Obst, hören zu, tun interessiert, erzählen manchmal auch Witze, vor allem aber schenken sie fleißig ein, so dass die schweineteure Whiskyflasche der Kunden nie lange hält. Sie sind bezahlte Gesellschaft und Businessmotoren. Besoffene Kunden, die übergriffig werden, erzählt man mir später, werden nicht bloß rausgeschmissen, sondern auch angezeigt. Als ich erzähle, dass wir solche Bars in Deutschland nicht haben, wundern sich alle sehr. Am Ende begleicht der große Bruder eine Rechnung über mehrere tausend Dollar, und ich frage mich, ob die Gäste vom Gwangjang Market diesen Raum nicht genauso fremd gefunden hätten wie ich.
Smog, neon-orangeAn einem meiner letzten Nachmittage fahre ich nach Itaewon, um ins Leeum zu gehen, das Museum, das sich die Samsung-Kulturstiftung für die eigenen Sammlungen spendiert hat. Ein futuristischer Geldmachtkomplex, die drei Gebäude sind gebaut von Koolhaas, Nouvel und Botta. Die Sammlung besteht aus wunderbarem koreanischem Kunsthandwerk und einer absolut risikofreien, hervorragenden Investition in eine Reihe moderner und zeitgenössischer internationaler Künstler: Hirst, Rothko, Koons, Judd, Nam und so weiter. Ich bin so ziemlich der einzige Besucher. So ungestört wie hier habe ich mir noch nie ein Richter-Gemälde ansehen können. Als ich nach ein paar Stunden aus dem Museum laufe, dämmert es, die untergehende Sonne färbt den Smog über den Hochhäusern von Seoul neon-orange. Auf dem Dach des Museums haben sie einen halogenblauen Leuchtschriftzug angebracht, „Memories of the Future“, lese ich.
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